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Bei Dir steht grade die Berufswahl an? – Werd ja nicht Physio, ganz im Ernst!!

Lieber Jugendlicher, liebe Jugendliche, liebe:r Umschüler:in,

ich bin seit über 20 Jahren Physiotherapeutin, und falls Du auch nur ansatzweise darüber nachdenkst, diesen Beruf zu ergreifen, möchte ich Dich mit den folgenden Zeilen davon abhalten, den größten Fehler Deines Lebens zu machen.

Und das meine ich wirklich ganz genau so, wie ich es schreibe. Wenn Du Dich nicht selber ins Unglück stürzen willst, werde auf keinen Fall Physiotherapeut:in.

Warum schreibe ich das? Weil es mir wirklich ein tiefes Anliegen ist. Ich hab über die Jahre schon ein paar Schnupperpraktikanten betreut, denen ich auch mit aller Überzeugungskraft, die ich überhaupt aufbringen konnte, davon abgeraten hab, diesen Beruf zu ergreifen. Ich hoffe wirklich, sie haben alle auf mich gehört. Aber ich denke schon. Niemand, der einen halbwegs gesunden Menschenverstand hat, wird heute noch Physiotherapeutin.

Ganz ehrlich: Wenn ich die wenigen Schüler:innen der Physiotherapie-Schulen sehe, wie sie sich und ihre Schule auf Social Media präsentieren, bekomme ich immer tiefstes Mitleid. Sie alle gehen einer richtig miesen Zukunft entgegen.

Aber bevor ich jetzt weiterlästere, erkläre ich Dir, wie ich überhaupt zu meiner Überzeugung komme.

Wie gesagt, ich bin jetzt seit über 20 Jahren Physiotherapeutin. Ich hatte ein ordentliches Abitur in der Tasche und wusste nach dem Abi nicht so genau, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Nur eins wusste ich mit Sicherheit: Ich wollte keinesfalls studieren.

Das wäre ja an sich kein Problem gewesen, aber anstatt eine Lehre zu machen, bei der ich schon ein bisschen Geld verdient hätte, hab ich mich für den Irrsinn einer Physio-Ausbildung an einer Berufsfachschule entschieden.

Versteh mich nicht falsch, Physiotherapie ist im Grunde genommen eine nice Tätigkeit.

ABER: Du verdienst nichts während der Ausbildung, obwohl Du schon ganz normal Patienten behandelst, und Deine Praktikumsstelle das auch ganz regulär mit der Krankenkasse abrechnet. Und es ist nicht nur so, dass Du nichts verdienst – weit gefehlt! Nein, Du musst auch noch Geld dafür bezahlen, dass Du arbeiten darfst! Du hast natürlich auch Schule, aber Praktikum mit Behandlungen in Eigenverantwortung gehört fest zum gesetzlich vorgeschriebenen Ausbildungsplan.

Also: Du arbeitest, bringst den Einrichtungen Geld in die Kasse, und darfst dann an Deine Schule auch noch einen Haufen Geld abdrücken. Das Schulgeld ist übrigens keine Lappalie, sondern sind, je nach Anbieter, mehrere hundert Euro im Monat. Gut, wenn man reiche Eltern hat. Oder eher schlecht, weil Kinder von armen Eltern kommen da von Haus aus nicht so sehr in Versuchung.

Dann ist es so, dass die Ausbildung richtig schwer ist. Viele, unzählige lateinische Begriffe wollen auswendig gelernt werden, Anatomie, Physiologie, Biomechanik, und unzählige weitere komplizierte Fächer werden gelehrt und geprüft. Es ist kein Wunder, dass sich die meisten Schulen nur Abiturienten als Schüler:innen wünschen. Ich hatte „Glück“: Ich hab nicht nur halbwegs wohlhabende Eltern, die dem Töchterchen die tolle Alternative zum Studium ermöglichen wollten, und ich hatte in der Schule sieben Jahre Latein. Das hat die Ausbildung deutlich vereinfacht.

Ach ja, apropos Glück: Ich hab das riesengroße Glück, eine ziemlich flotte Auffassungsgabe zu haben, und mir Lernstoff ziemlich easy merken zu können. Dafür bin ich bis heute dankbar, und das hat mir wirklich sehr oft in meinem Leben, mit Verlaub, den Arsch gerettet.

Das Abi hab ich mir wirklich aus dem linken Ärmel geschüttelt. Wie gesagt, ich weiß, dass das ein riesiger Glücksfall ist, und ich danke dem Herrgott wirklich fast jeden Tag für dieses Geschenk. Das Ding ist nämlich: Fleiß hab ich dafür überhaupt keinen bekommen bei der Verteilung von Talenten. Und Ehrgeiz auch nicht. (Ich bin zum Beispiel vermutlich die beste Verliererin auf der ganzen Welt. Ich konnte schon als Kind nichts mit Wettbewerben jeglicher Art anfangen. Ich verstehe bis heute nicht so ganz, was so toll sein soll am Gewinnen. Aber das nur am Rande.)

Und wenn man weder fleißig, noch ehrgeizig ist, ist es ein großer Segen, wenn man effektiv und schnell lernen kann. Jedenfalls hab ich wirklich auf das Abi vor jeder Prüfung maximal einen Tag gelernt, und die Facharbeit hab ich in der Woche vor dem Abgabetermin geschrieben. (Man hätte insgesamt über ein Jahr Zeit gehabt.)

Warum ich das so ausführlich erzähle? Weil ich fünf Monate vor dem Physio-Staatsexamen angefangen hab, täglich dafür zu lernen. Stundenlang. Und während des Staatsexamens hab ich wirklich nichts anderes mehr gemacht, als nur noch gelernt. Das Examen dauert ca. fünf Wochen. In dieser Zeit hab ich geschlafen, gelernt, Prüfungen abgelegt, und wieder gelernt.

Und dann hab ich es gar nicht mal so toll geschafft, mit einem Schnitt von 2,6. Das war ziemlich enttäuschend. Es fragt zwar eh niemand nach den Examens-Noten, aber nervig war das trotzdem. In den Zeugnissen während der Ausbildung hatte ich immer nur Einser vor dem Komma.

Also, was haben wir bis jetzt an Erkenntnissen gewonnen?

Es ist eine richtig schwierige Ausbildung mit viel kompliziertem Lernstoff, während der man auch schon stundenweise alleine behandeln muss. Die Behandlungen werden abgerechnet, Du kriegst nix, aber dafür darfst Du jeden Monat einen größeren Betrag an Schulgeld bezahlen.

Klingt nicht sehr verführerisch, oder?

Ja, das ist aber noch nicht alles!! Wenn Du dann das Examen bestanden hast, und anfängst, zu arbeiten, hast Du die Möglichkeit, entweder in einer stinknormalen Praxis zu arbeiten, oder in einer Einrichtung, wie einem Krankenhaus oder einer Reha oder sowas in der Richtung.

Ja, Du hast wirklich sauviel gelernt über die Jahre, aber Du verdienst danach richtig mies. Also, richtig mies. Am schlimmsten ist es in den normalen Feld-Wald-Wiesen-Praxen, die hauptsächlich Hausfrauen und Rentner behandeln, die zu faul sind, selber was für ihre Gesundheit zu tun. Du kannst Dir da nicht nur in jeder Behandlung deren Gejammer anhören, sondern Du bekommst auch noch so ein kleines Gehalt, dass Dir jeden Monat bei der Abrechnung die Tränen in die Augen steigen. Die maximalen Gehälter in den normalen Praxen sind bis 2500 Euro brutto. Maximal. In vielen Praxen werden auch noch Gehälter von unter 2000 Euro brutto bezahlt. Zieh Dir das mal rein. Du hast Abitur, krass viel gelernt, ein Staatsexamen bestanden, und musst jetzt mit einem Netto-Gehalt irgendwo um die 1700 Euro auskommen. Oder weniger. Wenn Du verheiratet bist, ist es ein bisschen mehr, dafür reicht so ein winziges Einkommen niemals, um eine Familie zu gründen. Falls Du für immer auf Deinen Partner angewiesen sein möchtest, ist das nicht schlimm. Und falls Du in Altersarmut enden willst, auch nicht. Falls Du gerne ein Haus möchtest, ein Auto, und sogar hin und wieder in Urlaub fahren – werde niemals Physio.

Zu der unterirdischen Bezahlung kommt nämlich noch etwas, das während der Ausbildung stillschweigend unter den Teppich gekehrt wird: Alles, was Du in der Physiotherapieschule lernst, bringt Dir hinterher überhaupt nichts. Natürlich kann man nach der Ausbildung gut behandeln, befunden, massieren, und so weiter. Aber das hilft Dir gar nichts – weil Du kaum etwas von dem, was Du in der Schule gelernt hast, abrechnen darfst. Du lernst zwar in der Ausbildung Lymphdrainage und Manuelle Therapie und PNF (das ist eine spezielle neurologische Behandlungstechnik) und viele andere Behandlungsarten, aber anwenden und abrechnen kannst Du sie nicht hinterher. Dafür musst Du erst noch die speziellen Fortbildungen machen. Das ist wieder ein riesiger Lern- und Zeitaufwand. Aber vor allem ein finanzieller Aufwand, den man mit einem Physio-Gehalt eigentlich nicht stemmen kann. Da müssen dann wieder Ehepartner oder Eltern einspringen.

Wer an einem Krankenhaus oder Ähnlichem arbeitet, bekommt manche Fortbildungen bezahlt. Und wer eine:n gute:n Chef:in erwischt, bekommt zumindest einen Zuschuss. Aber Übernachtung und Verpflegung, Fahrtkosten, und die viele Zeit, die erstattet Dir kein Mensch. Wenn Du das alles zusammenrechnest, bleibt Dir als Gehalt am Ende – und das ist traurigerweise keine Übertreibung – ungefähr das Gehalt der Putzfrauen im Krankenhaus.

Und als wäre das alles nicht genug, kommt jetzt noch das letzte, aber schwerwiegendste Argument gegen ein Leben als Physio: Es gibt keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten. Keine. Nie. Nirgends. Das Maximum ist ein leitender Therapeut in einer therapeutischen Einrichtung, oder eben die Selbstständigkeit. Ansonsten gibt es nichts. Denn alle höheren Positionen im Gesundheitswesen werden vergeben an die Leute, die studiert haben. Das sind dann zum Beispiel Sportpädagogen. Die mussten während ihres Studiums keine Anatomie der Gesichtsmuskulatur auswendig lernen. Die mussten nicht für ihre Ausbildung bezahlen. Und hinterher sitzen sie an den leitenden Positionen und bekommen ein akademisches Gehalt.

Mein Rat an Dich: Wenn Du Dich für Sport, Gesundheit und Bewegung interessierst, geh entweder in den skandinavischen Raum (da ist Physiotherapie ein Studiengang und wird hinterher entsprechend entlohnt und wertgeschätzt), oder mach ein Studium. Der Bachelor dauert genauso lang wie die Physio-Ausbildung, und Du steigst hinterher mit einem Anfangsgehalt für Akademiker, nicht für Reinigungskräfte ein. Du brauchst keine bescheuerten Fortbildungen machen über Dinge, die Du eh schon kannst, und brauchst nicht auch noch Dein Mini-Gehalt dafür aufwenden.

Studieren ist in jeder Hinsicht besser.

Was glaubst Du, warum ich mittlerweile blogge und kaum noch behandle? Es wäre wirklich so ein schöner Beruf – mit Körperkontakt und Zeit zum Reden und mit der Möglichkeit, Menschen akut und ohne jegliche invasive Techniken bei ihren Beschwerden zu helfen. Aber bei den vielen Minuspunkten auf der Liste, stürzt Du Dich nur mit Ansage ins Unglück.

Ich schreib das hier, damit niemand hinterher sagen kann, er/sie hätte von nichts gewusst. Ich hoffe, Du nimmst meine Warnung ernst, und wirst Sportpädagoge oder Polizistin oder Wassermeisterin oder sonst irgendwas Cooles mit guten Zukunftsaussichten, einem wertschätzenden Umfeld, und einer angemessenen Bezahlung!

Ich wünsche Dir für Deine Zukunft das Allerbeste

und sende Dir viele liebe Grüße!

Deine Katrin

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